7. Japan-Besuch: «Vieles findet im Labor statt, nicht aber im realen Leben.»

Seit bald drei Jahren ist Sabina Misoch, Leiterin des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter an der Fachhochschule St.Gallen, in regem Austausch mit Forschenden und Industriepartnern in Japan. Im Mai war sie im Rahmen einer Schweizer Delegationsreise letztmals vor Ort und kam mit spannenden Eindrücken und interessanten Erkenntnissen zurück.

Marion Loher

Im Herbst 2016 reiste Sabina Misoch, Leiterin des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alters, zum ersten Mal für einen Forschungsaufenthalt nach Japan. Mittlerweile war sie sieben Mal dort, letztmals im vergangenen Mai und dies zusammen mit einer Delegation des Kantons Bern. Der Besuch fand auf Einladung der Schweizer Botschaft in Tokyo statt, bei der Sabina Misoch, die auch das aktuell grösste nationale Forschungsprojekt «AGE-NT – Alter(n) n der Gesellschaft» leitet, am ersten Abend auch das Eröffnungsreferat halten durfte.

Für die Schweizer Delegation standen verschiedene Besichtigungen auf dem Programm. So wurde beispielsweise das Nakasone Peace Institut in Tokyo besucht sowie das Sanyo Home in Osaka, ein Zentrum für Tages-Rehabilitation. Spannend sei in diesem Zentrum gewesen, erzählt Misoch nach ihrer Rückkehr in die Schweiz, dass die Physio- und Reha-Patientinnen und -patienten nicht wie bei uns in Einzelzimmern therapiert würden, sondern gemeinsam in Gruppen von etwa 40 Leuten verschiedene Übungen machten. «Das zeigt einmal mehr: Japan ist im Gegensatz zu uns eine kollektivistische Gesellschaft, bei ihnen funktioniert sehr vieles in Gruppen.»

Zwischen Sturz- und selbstlernenden Robotern

Im Sanyo Home wurde der Delegation auch ein neu entwickelter «Sturz-Roboter» präsentiert. Aber es sei gar kein Roboter im eigentlichen Sinne gewesen, sagt Misoch und erklärt: Der Sturz-Roboter sei lediglich eine Weste, die an einem Gestell hänge. Dieses Gestell verlaufe an der Decke an festgemachten Schienen. «Verliert jemand, der diese Weste trägt, an Höhe, stoppt das Gestell die stürzende Person und bringt sie sanft zu Boden – ähnlich wie beim Klettern.» Es sei aber nichts «roboterhaftes», weder sei dieses System semi-autonom noch autonom.

Weil der Begriff Roboter bei den Japanern jedoch positiv besetzt sei, bezeichneten sie schnell einmal etwas als Roboter. Die Altersforscherin kann sich diesen «Sturz-Roboter» gut bei uns in Rehabilitationseinrichtungen vorstellen, wo sturzgefährdete Menschen beispielsweise das Treppensteigen üben. In Privat-Häusern hingegen – wie es die Japaner planen – sehe sie dieses Hilfsgerät nicht. «Es kann ja nicht sein, dass diese Menschen dann in ihren vier Wänden nur noch jene Wege gehen können, die ihnen die Bahnen vorgeben», sagt sie.

Nach dem Besuch eines japanischen Mehr-Generationen-Hauses ging es für die Delegation weiter nach Nara, einer Kleinstadt etwa rund 30 Autominuten östlich von Osaka. Nara ist bekannt für seinen Tierpark, dessen Rehe und Hirschen auch im Städtchen frei herumlaufen.

Hier besichtigten die Schweizer das NAIST, das Nara Institut of Science and Technology. Präsentiert wurde ihnen unter anderem ein künstliches Lab, das mit Sensoren ausgestattet ist, damit die Menschen länger selbstständig in ihren eigenen vier Wänden bleiben können. «In diesem Bereich sind wir den Japanern einen Schritt voraus», sagt die Altersforscherin. «Die Japaner arbeiten noch mit Kameras, deren Akzeptanz bei den Betroffenen aber gemäss unserer Erfahrung praktisch null ist.» Für eine Sturzprävention brauche es keine Kameras in den Privat-Wohnungen. «Das kann man auch anders lösen.»

Beeindruckend sei für sie der Besuch des NAIST-Labors gewesen, in dem Unterstützungs- und Pflege-Roboter entwickelt werden. Dies sind allerdings keine gewöhnlichen Pflege-Roboter, sondern selbstlernende Roboter. «Mit dieser Technologie beschäftigt sich die japanische Forschung derzeit ziemlich intensiv. Sie befindet sich aber noch am Anfang», sagt Misoch. «Das Thema «Selbstlernende Systeme» birgt jedoch grosses Potenzial und dürfte bei uns sicherlich noch zu Diskussionen führen.»

Ein Vertrauensverhältnis aufgebaut

Das Programm der fünftägigen Delegationsreise war dicht gedrängt, ein Termin jagte den nächsten. Zeit für Sightseeing war nicht eingeplant. Unverständlich für den Gouverneur von Nara, wie Misoch erzählt. Er fand, wenn die Schweizer schon einmal zu Besuch seien, müssten sie auch etwas ausserhalb von Forschungszentren und Labors sehen.

So organisierte er für die Gruppe eine Sightseeing-Tour durch Kyoto. «Das war wunderschön», schwärmt sie. «Wir hatten super schönes Wetter, machten Führungen durch Tempel und Schreine und durften sogar an einer ZEN-Meditation teilnehmen.» Die Kopfschmerzen, die sie vorher hatte, seien danach wie weggeblasen gewesen. «Ich war schon bei einigen Delegationsreisen dabei, aber eine Sightseeing-Tour hatte es noch nie gegeben.»

Die Altersforscherin blieb im Anschluss noch ein paar Tage in Tokyo, um ihre Kontakte zu pflegen. Regelmässige Treffen und ein intensiver Austausch seien wichtig, nur so könne ein gutes und enges Vertrauensverhältnis aufgebaut werden. «Nach meinem siebten Besuch habe ich nun das Gefühl, dies geschafft zu haben», sagt sie sichtlich erfreut. Ihr Fazit: «Beide Länder haben die gleichen Probleme: der demographische Wandel und den Fachkräftemangel. Bei der Lösungsfindung sind uns die Japaner aber nicht wie früher angenommen um einiges voraus. Vieles findet dort im Labor statt, nicht aber im realen Leben.»

Sabina Misoch wird in diesem Jahr nicht wie üblich ein zweites Mal nach Japan reisen. «Der Aufwand für die Reise und die Arbeit, die in der Zeit liegen bleibt, sind riesig. Deshalb werde ich wohl erst nächsten Frühling wieder nach Japan fliegen. Das Essen aber vermisse ich jetzt schon.»

Fotos: Sabina Misoch