Brückenschlag zwischen Forschung und Praxis in der Schweizer Alterspolitik

Halbzeit in der Projektdauer des nationalen Innovationsnetzwerks «Alter(n) in der Gesellschaft» AGE-NT: An einem Netzwerktreffen in Zürich gaben die Projektverantwortlichen Entscheidungsträgerinnen und -trägern aus Wirtschaft, Praxis, Politik und Forschung Einblicke in die Ziele, bisherigen Aktivitäten und Projekte.

Lea Müller

Übergeordnetes Ziel des Netzwerks AGE-NT ist es, eine Brücke zwischen Forschung und Praxis in der Schweizer Alterspolitik zu schlagen – indem Strukturen aufgebaut werden, die das gemeinsame Erarbeiten von Lösungen für die Herausforderungen der Lebensphase Alter ermöglichen.

Der Anteil an über 65-jährigen Menschen in der Schweizer Bevölkerung wird gemäss dem Bundesamt für Statistik von heute 18 auf bis zu 33 Prozent im Jahr 2060 anwachsen. «Der demographische Wandel stellt uns vor grosse Herausforderungen, für die wir innovative und sozialverträgliche Lösungen finden müssen», sagte Prof. Dr. Sabina Misoch, Leiterin des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter an der Fachhochschule St.Gallen (FHS) und Projektleiterin des nationalen Innovationsnetzwerks «Alter(n) in der Gesellschaft», kurz AGE-NT. Unter dem Lead der FHS St.Gallen arbeiten mehrere Fachhochschulen und Universitäten zusammen (siehe Kasten), um nachhaltige Strukturen zu entwickeln, in welchen mittel- und langfristig Lösungen erarbeitet werden können. Es handelt sich um das derzeit grösste nationale Vorhaben, das in der Schweizer Alterspolitik eine Brücke zwischen Forschung und Praxis schlagen möchte.

Erster Netzwerk-Tag

Das nationale Innovationsnetzwerk wird von 2017 bis 2020 vom Bund gefördert. Etwa zur Halbzeit der Projektdauer haben die Projektverantwortlichen am 19. November 2018 Stakeholder aus Wirtschaft, Praxis, Politik und Forschung zu einem Netzwerktag in Zürich eingeladen. Sie stellten Vorhaben, Stand und Planung in folgenden vier Kompetenzclustern vor: Active & Assisted Living (AAL), Demenz, Arbeitsmodelle 45+ sowie Ageing and Living in Place.

Nationale Forschungsagenda «Dementia Care Research CH»

Das Ziel im Cluster Demenz ist die Bündelung multidisziplinärer Forschungskompetenzen auf nationaler Ebene, wie Prof. Dr. Heidi Zeller von der FHS St.Gallen ausführt. «Wichtig ist uns dabei, dass Betroffene sichtbar werden.» Eine breite Literaturrecherche und Konzeptanalyse habe ergeben, dass der Aufbau einer Wissensplattform zum Thema «Dementia Care» nicht notwendig sei, da bereits viel Wissen zugänglich sei. Die Projektgruppe der FHS St.Gallen plant die Integration eines wissenschaftlichen Symposiums am St.Galler Demenz-Kongress. Ein weiteres Ziel ist die Entwicklung einer nationalen Forschungsagenda «Dementia Care Research CH» sowie einer «Technologie-Roadmap» unter Einbezug von Vertreterinnen und Vertreter aus Pflegewissenschaft und -praxis. Heidi Zeller berichtete zudem, dass 2020 ein Lernort für technikbasierte Simulation im Bereich Dementia Care in Betrieb genommen werden soll. Ziel ist eine curriculare Verankerung.

Mit Expertengremium Dialogstruktur lanciert

«Wir wollen einen Beitrag leisten, damit ältere Menschen möglichst lange im Arbeitsmarkt bleiben können», sagte Prof. Dr. Jonathan Bennett von der Berner Fachhochschule BFH. Im Cluster «Modelle für den Arbeitsmarkt 45+» gehen die Forschenden unter anderem der Frage nach, was Arbeitnehmende benötigen, um bis zum Alter von 64 bzw. 65 Jahren – oder darüber hinaus – im Arbeitsmarkt bleiben zu können und zu wollen. In einem ersten Schritt haben die Projektverantwortlichen im Cluster ein Expertengremium mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Praxis geschaffen. Es findet ein regelmässiger Austausch zu Projekten statt. «Ziel ist, dass diese Dialogstruktur auch nach vier Jahren weitergeführt wird», so Bennett.

Daten im Altersatlas aufbereiten

Im Cluster Leben und Wohnen im Alter – oder Ageing und Living in Place – gehe es vereinfacht gesagt darum, «ältere Menschen am ihnen vertrauten Ort alt werden zu lassen», sagte Clusterleiter Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter von der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Im Laufe der Jahre hätten Forscherinnen und Forscher Unmengen von Daten generiert. «Jetzt geht es darum, diese für eine breite Öffentlichkeit sichtbar zu machen und Schlussfolgerungen für die Alterspolitik zu nutzen.» Ein Beispiel ist das Projekt Alters-Survey: Die schriftliche Befragung zum Thema «Soziale Beziehungen im Alter» kann durch AGE-NT schweizweit ausgebaut werden. Die Daten werden im Rahmen des Alteratlas aufbereitet und über www.altersatlas.ch einem breiten Publikum zur Verfügung gestellt. Vom 31. Januar bis 1. Februar 2019 findet zudem eine internationale Tagung des Clusters Ageing & Living in Place zum Thema «Chancen und Risiken im Angesicht moderner Technik(en) und Technologien» in Olten statt.

Produkte in den Living Labs testen

Im Cluster Active Assisted Living stellte Prof. Dr. Sabina Misoch das Projekt «Living Lab 65+» vor. Technische Assistenzsysteme können ältere Menschen dabei unterstützen, länger in ihrer vertrauten Wohnumgebung zu bleiben – aber nur, wenn diese Systeme den tatsächlichen Bedürfnissen der älteren Menschen entsprechen und von ihnen auch akzeptiert werden. «Ältere Personen müssen in die Entwicklung neuer Technologien einbezogen werden», sagte Sabina Misoch. In den ersten Living Labs – sogenannte «lebendige Labore» – testen Seniorinnen und Senioren in ihrer alltäglichen Lebensumgebung Produkte auf Herz und Nieren. Das Netzwerk von Privathaushalten in der Ostschweiz wurde bereits um stationäre Einrichtungen erweitert und unter anderem mit Curaviva Schweiz als Partnerin kann das Projekt eine noch grössere Reichweite generieren. Nach den Langzeittestungen über mehrere Monate erfolgen Rückmeldungen an die Entwickler von Assistenzsystemen. «Ziel ist, dass nur Produkte auf den Markt kommen, die den Seniorinnen und Senioren tatsächlich entsprechen und letztlich ihre Lebensqualität steigern können», sagte Sabina Misoch. Die Erkenntnisse des Pilot-Living-Labs zeigen: Um technische Assistenzsysteme bei älteren Menschen zuhause testen zu können, braucht es eine Vorevaluation im «echten» Labor. Dazu hat die FHS St.Gallen ein «AGE-Lab» eingerichtet.

Die Vision weiterwachsen lassen

Anschliessend an die Cluster-Präsentationen fand eine Podiumsdiskussion statt, moderiert von Cornelia Kazis, Autorin und journalistische Expertin für Altersfragen. Die Podiumsteilnehmenden Sabina Misoch, Jonathan Bennett, Heike Geschwindner, Beirätin AGE-NT, und Bastian Cantieni, Projektleiter Think Tank W.I.R.E., warfen einen Blick in die Zukunft von AGE-NT. Cantieni gab den Projektleitern mit auf den Weg, wie wichtig eine klare gemeinsame Vision sei. Die Vision, eine Brücke zwischen Forschung und Praxis zu schlagen, sei ein guter Startpunkt, von wo aus die Vision aber weiterwachsen sollte. «In zehn Jahren hat sich das Netzwerk etabliert und die Cluster-übergreifende Zusammenarbeit bewährt», formulierte Geschwindner ihren Wunsch für die Zukunft.

Auch für Projektleiterin Sabina Misoch ist es ein grosses Anliegen, dass die entwickelten Strukturen nach Projektende in zwei Jahren und ohne Gelder des Bundes weiter bestehen. Als wichtiges Bindeglied zwischen Forschung, Praxis und Politik hat AGE-NT deshalb einen Beirat mit Vertreterinnen und Vertretern aus unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern eingesetzt (siehe Seite 5). «Wir freuen uns, dass der Beirat unsere Kursrichtung laufend beurteilt und Feedback zu den Ergebnissen in den Clustern gibt», sagte Sabina Misoch.

Im Beirat ist unter anderen auch Werner Schärer, Direktor von Pro Senectute Schweiz. «Ich bin beeindruckt, wie fokussiert und koordiniert die beteiligten Hochschulen dieses wichtige Thema der alternden Gesellschaft zusammen angehen», sagt er. Er betont die Notwendigkeit eines nationalen Netzwerkes und sieht im Einbezug der Praxis viel Potenzial: «Wir erhoffen uns, dass wir Erkenntnisse aus dem Projekt AGE-NT konkret im Alltag mit den älteren Menschen umsetzen können.»

Foto: Stephanie Lehmann

 

Alter(n) in der Gesellschaft: Nationales Netzwerk

Das nationale Innovationsnetzwerk «Alter(n) in der Gesellschaft» AGE-NT ist ein schweizweites Kooperationsvorhaben unter der Führung des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter der Fachhochschule St.Gallen. Das Projekt koordiniert die Forschung zum Thema «Alter(n)» in nachhaltigen Strukturen und schafft damit nationale und internationale Mehrwerte für Forschung und Praxis in der Schweiz. Nebst den Forschungs- und Entwicklungsprojekten in den vier Kompetenzfeldern Active & Assisted Living AAL, Leben mit Demenz, Modelle für den Arbeitsmarkt 45+ und Leben und Wohnen im Alter legt das Projekt grossen Wert auf den Aufbau und die Einrichtung nachhaltiger Bildungsangebote sowie auf die Förderung des akademischen Nachwuchses.

Die Fachhochschule St.Gallen/Fachhochschule Ostschweiz (FHO) leitet das Projekt, beteiligt sind sechs weitere Schweizer Fachhochschulen und Universitäten: Berner Fachhochschule (BFH), Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), Scuola Universitaria Professionale della Svizzera Italiana (SUPSI), Universität Bern, Universität Genf, Universität Zürich. Der Aufbau des Innovationsnetzwerkes AGE-NT erfolgt im Auftrag der Schweizerischen Hochschulkonferenz. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI hat hierfür im März 2017 projektgebundene Beiträge in der Höhe von fast vier Millionen Franken gesprochen, welche mit Beiträgen der beteiligten Hochschulen und Universitäten in gleicher Höhe ergänzt werden. Das Projekt dauert von 2017 bis 2020. Weitere Informationen: www.age-netzwerk.ch.