Demenz – das Ende der Freiheit?

Wer an Demenz erkrankt, kann seine Freiheit immer weniger wahrnehmen. Fürsorge und Sicherheit haben in der Pflege von Menschen mit Demenz oft einen höheren Stellenwert als Freiheit. Wie kann die Gratwanderung zwischen Freiheit und Sicherheit gelingen? Warum ist es für Pflegefachpersonen oft schwierig, die Balance zwischen Fürsorge und Freiheit zu halten? Solche Schlüsselfragen standen im Zentrum des diesjährigen St.Galler Demenz-Kongresses.

«Was würden Sie sich wünschen, wenn Sie die Diagnose Demenz erhielten?», fragte Prof. Dr. Heidi Zeller, Leiterin der Fachstelle Demenz der FHS St.Gallen, bei ihrer Begrüssung der rund Tausend Teilnehmenden. «Vermutlich werden Sie sich erhoffen, nach wie vor frei handeln zu können, zwischen verschiedenen Optionen wählen zu dürfen, ihren Willen äussern zu können und Respekt zu erfahren. Doch das Recht auf Selbstbestimmung wird in Pflegesituationen tagtäglich und oft unbemerkt tangiert – besonders bei Personen mit Demenz». Pflegende sind dem Prinzip der Selbstbestimmung verpflichtet. Doch zugleich müssen sie sicherstellen, dass ein Mensch mit Demenz sich selbst oder andere Personen nicht gefährdet. So entsteht ein anspruchsvolles Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, wie Heidi Zeller betonte. Fundamentale Verwundbarkeiten und Schutzbedürfnisse stehen dabei auf dem Spiel.

«Freiheit ist riskant» und stets «in Gefahr», bestätigte Dr. Ina Prätorius. Sie wies darauf hin, dass alle Menschen «frei geboren» sind: «Niemand kann mir die Freiheit nehmen». Was aber geschieht, wenn eine Krankheit wie Demenz dem Menschen mehr und mehr seine Freiheit raubt? Können Pflegefachpersonen dann vielleicht neue, bisher unerkannte Freiräume eröffnen? Inwieweit muss aber auch die Gesellschaft «demenzfreundlicher» werden, damit Menschen mit dieser Krankheit weiterhin «Freiheit leben» können? Fragen wie diese zogen sich wie ein «roter Faden» durch die vier Referate und sechs Workshops.

Freiheit und Sicherheit – Hand in Hand?

Sicherheit – nicht Freiheit – gilt oft als höchstes Gut in der Pflege von Menschen mit Demenz. Die wichtigste Quelle der Sicherheit ist eine heilsame Beziehung zwischen der Pflegefachperson und dem demenzbetroffenen Menschen, wie Dr. Elisabeth Höwler hervorhob. Gefragt sind empathische, emotional authentische und feinfühlige Fachpersonen, die auf das «beziehungssuchende Verhalten» von Menschen mit Demenz eingehen können. Wünsche und Hoffnungen von Menschen mit Demenz richten sich in erster Linie auf eine sicherheitsgebende Beziehung, wie Elisabeth Höwler zeigte. In einer tragenden Pflegebeziehung haben Betroffene das Gefühl, anerkannt, emotional verstanden und respektiert zu werden. Zugleich erleben sie, dass es immer Personen gibt, auf die sie vertrauen können. Dies trägt wesentlich zu ihrem Kohärenzgefühl bei.

Eine respektvoll-empathische Pflegebeziehung könnte somit Sicherheit und Freiheit zugleich bieten. Umso bedauerlicher ist es jedoch, wenn beziehungsorientierte Pflege bei Vorgesetzten auf Ablehnung stösst. Das Beispiel einer jungen, hochmotivierten Pflegefachperson machte deutlich, dass Caring-Verhalten unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. Menschen mit Demenz wussten es sehr zu schätzen, einzelne Teammitglieder und die Bildungsverantwortliche hielten es für distanzlos und unreflektiert. Professionalität wird teilweise noch immer mit «zweckrationaler» Funktionspflege gleichgesetzt. Das Empathievermögen einer Fachperson gilt dann nicht als Stärke, sondern als unprofessionelle Schwäche und Ausdruck mangelnder pflegerischer Selbstsorge. Umso wichtiger ist es aus Sicht der Referentin, bereits in der Pflegeausbildung deutliche Akzente zu setzen. Berufsbildner(innen) sollten beziehungsorientierte Pflege vorleben. Sonst besteht die Gefahr, dass die junge Generation der Pflegenden ihre beruflichen Ideale verliert und resigniert. Menschen mit Demenz könnten dies leidvoll zu spüren bekommen.

Keine Alternative zu Antipsychotika?

Die Freiheit und Würde des Menschen mit Demenz zu bewahren, ist ein zentrales Anliegen der personzentrierten Pflege im Sinne Tom Kitwoods. Erfahrungen in Grossbritannien zeigten, dass Antipsychotika deutlich seltener zum Einsatz kommen, wenn Fachpersonen sich am personzentrierten Modell orientieren: Die Verschreibung von Antipsychotika sank von 41% auf 22%. Somit stellt personzentrierte Pflege eine wertvolle Alternative zu medikamentösem Vorgehen dar. Menschen mit Demenz sind dadurch nicht den schwerwiegenden Nebenwirkungen der Antipsychotika ausgesetzt.

Nach dem Vorbild einer britischen Studie untersuchte Dr. Steffen Fleischer, Martin-Luther-Universität Halle, mit seinem Team, ob eine solche Entwicklung auch in deutschen Pflegeheimen möglich ist. In umfangreichen Schulungen erhielten Pflegefachpersonen und Ärztinnen bzw. Ärzte Informationen über Antipsychotika. Das Forschungsteam untersuchte kontinuierlich die Medikation der Bewohnenden und überprüfte die Lebensqualität sowie das Sturzrisiko.

Die Ergebnisse widersprachen sämtlichen Vorannahmen. Bei Teilnehmenden, die personzentrierte Pflege erhielten, sank die Verschreibung von Antipsychotika nicht, sondern stieg sogar an. Den höchsten Wert erreichte ein Heim, in dem nur einer von zwanzig Bewohnenden kein antipsychotisches Medikament erhielt. Die Studienergebnisse geben Anlass zum Nachdenken. «Was in einem anderen Land funktioniert, kann unter veränderten Bedingungen scheitern», so Steffen Fleischer. Besteht für die Ärzteschaft kein Anreiz, weniger Medikamente zu verschreiben, kann personzentriertes Vorgehen nicht die erhoffte Wirkung entfalten. Somit ist ein Wandel der gesamten Versorgungskultur und Haltung gefragt – bei allen beteiligten Professionen.

«Urteilsunfähig»: Wann ist ein Mensch nicht mehr autonom?

Einer Person mit Demenz die Entscheidungsbefugnis zu entziehen, ist ein massiver Eingriff, betonte Prof. Dr. Harry Landolt, Universität St. Gallen. Ethisch lässt sich dieser Schritt nur als eine Art «Schutzmassnahme» rechtfertigen, um negative Folgen zu verhindern. Urteilsfähigkeit ist kein medizinischer, sondern ein rechtlicher Begriff. Häufig ist es sehr schwierig, zu entscheiden, ob ein Mensch mit Demenz noch urteilsfähig ist oder nicht. Pflegefachpersonen und Ärztinnen bzw. Ärzte wünschen sich hierfür Orientierung und können sich auf eine Richtlinie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften beziehen. Stets gilt es jedoch zu bedenken, dass «Urteilsunfähigkeit» keine Eigenschaft eines Menschen ist. Es handelt sich um eine Zuschreibung durch andere Menschen. Sie gilt nur für vorübergehend und erfordert stetiges Evaluieren. «Das menschliche Urteilsvermögen ist fluktuierend», wie Dr. Ulrich Hemmeter, Chefarzt der Alters- und Neuropsychiatrie St. Gallen Nord, hervorhob. Je nach Situation kann es immer wieder «luzide Momente» geben: Betroffene sind zeitweise wieder aufmerksam und zeigen Willenskraft. Solche klarsichtigen Augenblicke sind wertvoll, um Wünsche und Willensäusserungen einer Person mit Demenz zu erkennen: «In einer guten Pflegebeziehung können wir vieles herausfinden», berichtete Ursa Neuhaus, Leiterin Bildung im Zentrum Schönberg, Bern.

Um den Wünschen und Hoffnungen von Menschen mit Demenz so nahe wie möglich zu kommen, sind Angehörige die wichtigsten Gesprächspartner der Pflegenden. Doch was geschieht, wenn die betroffene Person nicht möchte, dass Familienmitglieder ihre Diagnose erfahren? Und inwieweit können «Vertretungspersonen» im Interesse «urteilsunfähiger» Personen mit Demenz handeln? «Können wir einen Menschen wirklich vertreten?» lautete eine zentrale Frage in der Podiumsdiskussion über das Thema «Freiheit und Selbstbestimmung von Personen mit Demenz». Diese Diskussion zeigte, wie anspruchsvoll es ist, sich im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung verantwortungsbewusst zu positionieren.

Eine hoffnungslose Erkrankung?

Wird es in absehbarer Zeit möglich sein, Demenz medikamentös zu heilen, aufzuhalten oder sogar zu verhindern? Prof. Dr. Reto W. Kressig, Ärztlicher Direktor der Universitären Altersmedizin am Felix-Platter Spital, Basel, gestand seine Zweifel ein. Seit Jahrzehnten hält die Forschung an einer Hypothese fest, die inzwischen widerlegt ist. Medikamente gegen Beta-Amyloid-Proteine einzusetzen, hilft den Betroffenen nicht. Zudem müsste die Therapie bereits einsetzen, bevor Symptome auftreten. Auch Wirkstoffe, die sich gegen Tau-Proteine richten, brachten bisher nicht den erhofften Durchbruch. Bedenklich sind auch die Nebenwirkungen aktuell getesteter Medikamente. Beispielsweise löst der Antikörper Aducanumab Irritationen an der Gefässwand aus und kann zu Mikroblutungen oder Ödemen führen.

Wenig öffentliche Aufmerksamkeit erhielten Studienergebnisse, wonach das Risiko, an Demenz zu erkranken, um fast ein Viertel zurückgegangen ist. Die Ursache scheint im erfolgreichen Management kardiovaskulärer Risikofaktoren zu liegen. Mehr Beachtung sollten aus Sicht von Reto Kressig nicht-medikamentöse Therapien erhalten. Sie sprechen emotionale Kompetenzen an, die bis in späte Krankheitsstadien erhalten bleiben. Zugleich fördern sie noch vorhandene Hirnleistungs-Ressourcen. Musikbasierte Bewegungsprogramme wie Dalcroze-Rhythmik scheinen besonders geeignet, Hirnreserven zu mobilisieren und somit die Kognition signifikant zu verbessern. Auch herausforderndes Verhalten lässt sich durch Dalcroze-Rhythmik-Programme lindern. Agitiertes, aggressives und herausforderndes Verhalten sowie motorische Unruhe sind eine Ausdruckssprache der Not. Vieles weist darauf hin, dass gezielte Bewegungsförderung Menschen mit Demenz eine Ausdrucksfreiheit ermöglicht, die ihnen fehlt: Bewegungsfreiheit wirkt heilsam.

 «Freiheit leben» – in einer demenzfreundlichen Gesellschaft

Fachpersonen und Angehörige können Hoffnungs-Träger(innen) für Menschen mit Demenz sein, wenn ihnen die Balance zwischen Freiheit und Fürsorge gelingt. Dies war eine zentrale Botschaft des Kongresses. Hoffnungs-Träger(innen) sehen in der Person mit Demenz einen wünschenden, wollenden und hoffenden Menschen. Wer sich täglich um Personen mit Demenz kümmert, muss jedoch selbst hoffnungsstark sein, einen inneren Halt haben und wissen, was «die Seele gesund hält», betonte Dr. Matthias Mettner, Programmleiter des Forums Gesundheit und Medizin, Meilen/Zürich. «Freiheit leben» mit einer Demenzerkrankung – das ist möglich, wenn es gelingt, gesellschaftliche Barrieren abzubauen und eine demenzfreundliche Gesellschaft zu gestalten. Die Referate und Workshops waren Wegweiser zu diesem Ziel. Demenz ist nicht nur ein pflegerisch-medizinisches Thema. Die gesamte Gesellschaft und die Politik stehen in der Verantwortung. Es muss selbstverständlich sein, dass Menschen mit Demenz und ihre Familien in der Mitte der Gesellschaft leben können und von Anfang an in unterstützende Netzwerke eingebettet sind. Dazu zählt beispielsweise ein Coaching für Angehörige, das Pro Senectute im Kanton St. Gallen anbietet: Eine Fachperson steht den betreuenden Angehörigen zur Seite, um zur richtigen Zeit ausreichende Entlastung zu sichern – je nach individuellen Wünschen und Bedürfnissen. «Freiheit leben» mit Demenz setzt eine Gesellschaft voraus, die Betroffene nicht stigmatisiert und isoliert. Das Miteinander von Menschen mit und ohne Demenz im öffentlichen Raum muss selbstverständlich sein. Denn Dazugehören zur Gemeinschaft ist vielleicht die wichtigste Quelle von Freiheit und Hoffnung für Menschen mit Demenz.

Text: Dr. Diana Staudacher, wissenschaftliche Mitarbeiterin, FHS St.Gallen, Fachbereich Gesundheit
Foto: Peter Ruggle

St.Galler Demenz-Kongress
Der St.Galler Demenz-Kongress wird vom Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule St.Gallen in Kooperation mit den Olma Messen St.Gallen veranstaltet. Das Thema für den nächsten St.Galler Demenz-Kongress lautet: «Vergessene Anforderung – End of Life Care bei Personen mit Demenz». Der Anlass findet am 13. November 2019 statt.