In Japan um 33 Jahre voraus

Sabina Misoch, Leiterin des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter der FHS St.Gallen, reist Ende September für einen fünfwöchigen Forschungsaufenthalt nach Japan. Die Altersforscherin und Projektleiterin des nationalen Innovationsnetzwerks «Alter(n) in der Gesellschaft» tauscht sich mit Wissenschaftlern und Praktikern über (neue) technologische Lösungen aus und knüpft Kontakte zu möglichen Forschungspartnern. Im Interview verrät sie, welche Highlights auf dem Programm stehen, wovor sie am meisten Respekt hat und wie sie sich auf die japanische Kultur vorbereitet.

Lea Müller

Frau Misoch, warum führt Sie Ihr Forschungsaufenthalt gerade nach Japan?

Sabina Misoch: Wenn wir die demografische Entwicklung betrachten, befindet sich die japanische Gesellschaft an einem Punkt, den wir erst im Jahr 2050 erreichen werden: in Japan ist bereits etwa ein Drittel der Bevölkerung 65 Jahre alt und älter. Es ist natürlich spannend zu schauen, welche Lösungen die japanische Gesellschaft für diese Herausforderung gefunden hat, zumal es einige Parallelen zur Schweizer Situation gibt: beide Länder sind hochentwickelte Industrienationen, die einen grossen Fachkräftemangel und einen zunehmender Mangel an informellen Pflegenden haben – und das bei sehr hoher und zunehmender Lebenserwartung der Menschen.

Was ist das Ziel Ihrer Reise?

Misoch: Der Forschungsaufenthalt hat mehrere Ziele. Erstens möchte ich mich mit japanischen Wissenschaftlern austauschen und nachhaltige Kooperationen mit Forschungspartnern aufbauen. Zweitens sichte ich technologische Assistenzlösungen und Robotikanwendungen für ältere Menschen, die in Japan bereits angewendet werden oder sich in der Entwicklung befinden. Drittens möchte ich Technologien kennenlernen, die wir in unseren Living Labs testen können und die für den Schweizer Markt attraktiv sein könnten.

Welche Highlights stehen auf dem Programm Ihres Forschungsaufenthalts?

Misoch: Zum Auftakt nehme ich an der Robo Universe Messe in Tokyo teil. Hier möchte ich möglichst viele Innovationen kennenlernen und Kontakte zu Forschung und Industrie knüpfen. Danach treffe ich mich mit dem Erfinder des Therapieroboters «PARO». Die Roboter-Robbe ist im Demenz-Bereich weltweit bekannt, aber nicht unumstritten. Mit ihrem Erfinder bin ich seit längerem in Kontakt und bei unserem Treffen möchten wir ein gemeinsames Forschungsvorhaben besprechen. Dazu kommen weitere Treffen mit Forschenden, die sich mit technologischen Lösungen für die alternde Gesellschaft auseinandersetzen. Zum Abschluss der Japan-Forschungsreise besuche ich Okinawa, die «Insel der 100-Jährigen». Ich treffe mich mit dem Leiter der Hundertjährigen-Studie zum Austausch. Das ist für uns sehr spannend und ich freue mich sehr, mit ihm den Aufbau der Studie und die bisherigen Ergebnisse zu diskutieren.

Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich grundsätzlich von dieser Reise?

Misoch: Ganz generell ist es mir wichtig, als Vertreterin der Fachhochschule St.Gallen einen Beitrag zur Internationalisierung der Forschung zu leisten.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass technologische Lösungen aus Japan auf die Schweiz adaptiert werden können?

Misoch: Es hat sich bislang gezeigt, dass die Technikakzeptanz – und nicht die Nützlichkeit einer Technologie – der entscheidende Faktor für die erfolgreiche Einführung von Technologien darstellt. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um Innovationen handelt, die von Menschen in der dritten und vierten Lebensphase eingesetzt werden sollen. Wir wollen vielversprechende japanische Innovationen in unseren Living Labs zusammen mit Seniorinnen und Senioren im realweltlichen Kontext langzeitlich (3 bis 6 Monate) testen. Ziel ist es, aussagekräftige Daten über deren Akzeptanz und Bedingungen der Akzeptanz in der Schweiz zu erlangen.

Worauf freuen Sie sich am meisten?

Misoch: Ich freue mich sehr auf den Austausch mit den japanischen Forschenden, die in Bezug auf technologische Lösungen für das Leben im Alter um einiges weiter sind als wir.

Wovor haben Sie am meisten Respekt?

Misoch: Am meisten Respekt habe ich zugegebenermassen vor der Sprachbarriere. Bereits im Vorfeld habe ich gemerkt, dass es einer extrem guten und aufwendigen Planung bedarf, um ohne Kenntnis des Japanischen einen fundierten wissenschaftlichen Austausch pflegen zu können.

Japaner pflegen in vielerlei Hinsicht eine andere Kultur als wir Europäer. Wie bereiten Sie sich auf diese kulturellen Unterschiede vor?

Misoch: Durch meine Japanisch-Lehrerin habe ich einiges über die japanische Kultur und Mentalität gelernt, aber auch durch die dreiwöchigen Sommerferien, die ich mit Mann und Kindern in Japan verbracht habe. Dieser Aufenthalt hat uns allen sehr geholfen, ein Gespür für die japanische Mentalität zu entwickeln und uns in Japan schon etwas einzuleben. Der Forschungsaufenthalt wird für die ganze Familie eine spannende Erfahrung, da mein Mann zeitgleich in Japan forschen wird. Unsere 8-jährigen Zwillinge begleiten uns und besuchen für diese Zeit als Gastschülerinnen die Deutsche Schule. Wir hoffen, dass wir kulturell nun so sensibilisiert sind, dass wir die schlimmsten Fettnäpfchen im Herbst vermeiden können.

Foto: zVg./Sabina Misoch während ihrer Japan-Reise im Sommer 2017